Die Zukunft des Universums
Arnold Benz
Zusammenfassung
Im 20. Jahrhundert haben tiefgreifende Umwälzungen im
naturwissenschaftlichen Weltbild stattgefunden, die in unserer Kultur noch
weitgehend unbewältigt sind. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts
herrschte die Meinung vor, der Kosmos bestehe seit unendlicher Zeit, ohne
Anfang und Ende. Dann zeigten Beobachtungen, daß
das Universum vor wenigen Milliarden Jahren entstanden ist. Gegen Ende des
Jahrhunderts schließlich wurde bewußt, daß beides nicht stimmt. Die Dinge im Universum sind
nicht im Urknall entstanden, die Sonne zum Beispiel hat nur ein Drittel des
Alters, und das menschliche Bewußtsein keimte
erst vor wenigen hunderttausend Jahren auf. Die Voraussetzungen selbst, dank derer
sich die kosmischen Objekte von Atomen, Sternen bis zu Lebewesen bilden
konnten, entstanden erst im Laufe der Zeit. Der Anfang des Kosmos war nicht wie
im Theater, wenn der Vorhang aufgeht, das Bühnenbild bereitsteht und das
Spiel beginnt. Die kosmische Entwicklung verlief viel dramatischer, wie wenn
anfangs nur glühendes Magma war, das zu Gestein erstarrte, woraus sich ein
Gebäude bildete. Darin tauchte eine Werkstatt auf für
Bühnenbauten, eine Schauspielschule, eine Bühne. Alles fiel wieder
zusammen, wurde wieder aufgebaut usw. bis schließlich dann unser
Stück gespielt wird.
Sterne entstehen noch heute
Allein in unserer Milchstraße, einer Galaxie von einigen hundert
Milliarden Sternen, entstehen gegenwärtig pro Jahr etwa zehn neue. Die
Geburt von Sternen und ihre Vorgeschichte dauern rund zehn Millionen Jahre.
Rund hundert Millionen Sterne sind folglich in unserer astronomischen
Nachbarschaft am Entstehen. Der Kosmos überquillt von Fruchtbarkeit.
Sterne entstehen in interstellaren Molekülwolken, die für ihre
wunderschönen, wolkenartigen Dunkelstrukturen bekannt sind. An Orten, wo
das Gas dichter ist als nebenan, zieht die Schwerkraft der Dichtefluktuation
das umgebende Gas an. Dadurch wird die Verdichtung stärker und verleibt sich noch weiteres Gas ein. Der Prozeß verstärkt sich selber. Die Materie
konzentriert sich allmählich in dichten Wolkenkernen, bis diese unter
ihrer eigenen Schwerkraft zusammenbrechen. Dann fällt das Gas im freien
Fall gegen das Zentrum der Kerns, wo der verbleibende Drehimpuls die Materie zu
einer rotierenden Scheibe formt.
Nach zehn Millionen Jahren werden Temperatur und Dichte im Zentrum so
groß, daß die Verschmelzung von
Wasserstoff zu Helium einsetzt und Kernenergie in einem gewaltigen Ausmaß
entfesselt wird. Der zusätzliche Gasdruck, der durch die neue
Energiequelle entsteht, stoppt die Kontraktion. Im innersten Teil des Wirbels
bildet sich ein Gleichgewicht zwischen Schwerkraft und Gasdruck: der Stern ist
geboren.
Die Sternentstehung ist ein Beispiel, wie heute noch Neues entsteht. Das
Werden hat jedoch eine Kehrseite: den Zerfall. Wenn die Energie erschöpft
ist, schrumpfen Sterne zu allmählich erkaltenden Weissen Zwergsternen oder
explodieren als Supernova und schleudern einen Teil ihrer Materie und ihrer
Schlacke ins interstellare Gas zurück. Dort bilden sich wieder neue
Sterne. Aber es ist kein ewiger Kreislauf, denn aus der Asche der früheren
Sterngenerationen entstehen die Planeten: etwas völlig Neues.
Wenn wir in einer klaren Nacht den Sternenhimmel betrachten und glauben,
wenigstens die Sterne seien noch gleich wie früher, dann liegt dieser
Einschätzung unsere zu kleine Zeitskala zugrunde. In Wirklichkeit
entwickelt sich das Universum mit einer ungeheuren Dynamik, das Entstehen von
Sternen und die Bildung von Planeten stellen nur Teilprozesse dar, die auf
früheren kosmischen Vorgängen wie der Materiebildung aus Quarks im
frühen Universum und der Galaxien-Entstehung aufbauen. Die qualitative
Entwicklung ist eine fundamentale Eigenschaft des Kosmos. Dabei spielt die Zeit
eine wichtigere Rolle, als früher angenommen wurde.
Das Prinzip des Werdens
Steht hinter dieser dynamischen Kreativität ein Schöpfergott?
Seit mehr als zweihundert Jahren weisen Naturforscher immer wieder darauf hin, daß es diese Hypothese in den Naturwissenschaften
nicht braucht (Laplace, 1776). Gewiß ist noch
vieles unklar, doch gibt es bereits Modelle, wie selbst das Universum sich
möglicherweise gemäß heute bekannten Naturgesetzen aus einem
Vakuum gebildet hat. In diesem Sinne gibt es keine grundsätzlichen
Lücken in der Entwicklung des Universums vom Urknall bis zur Entstehung
des Menschen, die nur durch das Wirken einer übernatürlichen Macht
erklärt werden könnten. Noch bestehende Lücken sind die
Arbeitsgebiete der heutigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren
großes Ziel es ist, die Lücken zu verkleinern und zu
schließen.
Warum ist etwas geworden und nicht nichts? In dieser Frage geht es um das
fundamentale Thema eines Prinzips hinter den Naturgesetzen. Daß
wir und alle Dinge geworden sind, ist allerdings unbestreitbar, und über
das Wesen dieses "Prinzips des Werdens" könnten ähnliche
Überlegungen angestellt werden, wie griechische Philosophen im 5.
Jahrhundert v. Chr. über den "Seinsgrund".
Wer sie mit dem schöpferischen Willen Gottes beantwortet, begibt sich in
Gefahr, eine unbeweisbare metaphysische Größe einzuführen, die
keine direkte Beziehung weder zur Naturwissenschaft noch zum Fragenden hat.
Teilnehmende Wahrnehmungen
Der biblische Gottesbegriff stammt letztlich weder aus philosophischen
noch aus naturwissenschaftlichen Überlegungen. Er beruft sich auf
Erfahrungen und Wahrnehmungen, die sich wesentlich von jenen in der
Naturwissenschaft unterscheiden: die Vision eines brennenden Dornbuschs, die
Bewahrung auf der Flucht aus Ägypten, Erscheinungen auf einem Berggipfel
und nach dem Tod von Jesus, und dem sicheren Getragensein
im nachösterlichen Alltag.
Naturwissenschaftliche Messungen und Beobachtungen müssen
reproduzierbar und objektiv, der Forschende austauschbar und das Resultat von
ihm unabhängig sein. Im Gegensatz dazu ist der Mensch an religiösen
Wahrnehmungen immer mitbeteiligt. Ich würde nicht sagen, daß sie rein subjektiv seien, denn sie sind allgemein
menschlich und verändern das Leben vieler Menschen in einem sichtbaren und
zum Teil sehr positiven Sinn. Die Wirkung der religiösen Erfahrung bezeugt
dann ihre Wirklichkeit. Der Mensch selbst ist jedoch unmittelbar beteiligt an
der religiösen Wahrnehmung, er ist das eigentliche Meßorgan.
Daher ist der oder die Wahrnehmende nicht austauschbar. Religiöse
Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Kunsterlebnissen. Es folgt,
daß die Ausgangspunkte von Naturwissenschaft
und Religion grundverschieden sind. Die beiden Erfahrungsarten spannen in der
Folge auch zwei verschiedene Ebenen von Sprache und Methode auf.
In der gegenwärtigen Diskussion von Naturwissenschaft und Theologie
führt es immer wider zu Mißverständnissen
und falschen Erwartungen, wenn diese beiden Ebenen der Wahrnehmung nicht
auseinandergehalten werden. Die Verschiedenheit ist der Grund, daß die Naturwissenschaft weder Gott beweisen, noch
ihn widerlegen kann. Es ist so aussichtslos in wissenschaftlichen Resultaten
einen Beweis für Gott zu finden wie in kanadischen Wäldern eine
Palme. Kein direkter Weg führt von naturwissenschaftlichen Messungen zu
religiösen Erfahrungen.
Der Weg kann nur indirekt sein und geht immer über das menschliche Bewußtsein. Zum Beispiel regt die
Zweckmäßigkeit des Universums zum Staunen an. Glaubt ein Mensch an
Gott aufgrund anderer Erfahrungen, kann er in der kosmischen Dynamik das
Wirken Gottes sehen. Nur dann wird aus dem Prinzip des Werdens, das was mit dem
biblischen Gottesbegriff gemeint ist. Ohne teilnehmende Wahrnehmungen bleibt es
ein abstraktes Prinzip.
In Erwartung der Zukunft
Der wichtigste Begegnungsort von Naturwissenschaft und Glaube ist das
Nachdenken über die Zukunft, die - herbeigesehnt oder befürchtet -
unweigerlich in die Gegenwart hineinwirkt. Die Zuverlässigkeit
wissenschaftlicher Voraussagen ist sehr gut, wenn es zum Beispiel den Abbau
eines Energievorrats betrifft. Die Lebenszeit der Sonne, noch etwa 6 Milliarden
Jahre, ist daher gut bekannt. Ihr Zerfall ist sicher. Bei Systemen mit mehreren
wechselwirkenden Elementen, wie zum Beispiel beim Planetensystem oder beim Wetter,
ist dies anders. Seit einigen Jahren nennt man solche Prozesse nicht-linear
oder auch chaotisch. Ihre Entwicklung kann nicht langfristig
vorausgesagt werden. Ihre Zukunft ist offen. Es besteht eine merkwürdige
Asymmetrie zwischen dem Zerfall aller Dinge im Universum, den wir zum Teil
genau vorausberechnen können, und dem Entstehen von Neuem, das nicht
prognostizierbar ist, weil die kosmische Entwicklung in den meisten Fällen
chaotisch ist.
Naturwissenschaft und Religion haben verschiedene Perspektiven, und eine
gewisse Spannung ist unvermeidlich:
· Langfristig kann die Astrophysik nur den
Zerfall voraussagen. Neues ist nicht prognostizierbar, auch wenn es nie
ausgeschlossen werden kann.
· Hoffnung ist zentral im christlichen
Glauben: Hoffnung trotz allem Zerfall und selbst wider die Vernunft und
letztlich Hoffnung im Tod.
Weil es die beiden gegenläufigen Strömungen von Entstehen und
Zerfall gibt, spielt das Erkennen von Mustern eine große Rolle.
Mustererkennung ist eine wichtige Art der menschlichen Erkenntnis und
unterscheidet sich vom reinen Messen. Hier machen wir entscheidende Schritte
von den exakten Wissenschaften zu den anderen Naturwissenschaften und
schließlich in Richtung Religion. Mustererkennung bedingt, daß wir die Fakten deuten. Deuten ist dann
nötig, wenn wir ein Phänomen nicht in mathematisierbare Elemente
zerlegen können und geschieht in zwei Schritten:
Die menschliche Vernunft wählt zunächst aus zahllosen
Wahrnehmungen und Erfahrungen Fakten aus, die sie als besonders typisch
erachtet. Dieser Auswahlprozeß kann unbewußt, unreflektiert oder durch einen Computer
geschehen. Bezüglich der Zukunftserwartung nennen wir es die "Zeichen
der Zeit" in der Gegenwart. Der zweite Schritt beim Deuten ist das
Erkennen eines Musters. Es wird durch frühere Wahrnehmungen oder
Erlebnisse konstituiert, durch "Musterbeispiele" im Erfahrungsschatz.
Das Muster wird dann durch seine Ähnlichkeit mit der neuen Situation
wieder erkannt, nämlich dann, wenn die Probe und das Musterbeispiel
innerhalb einer gewissen Marge übereinstimmen. Bei der Mustererkennung
können Fehler entstehen, indem ein Muster nicht erkannt oder eine
Übereinstimmung fälschlicherweise gemeldet wird. Das zweistufige
Deuten (mit Auswahl und Mustererkennung) ist eine unumgängliche Methode
für gewisse Fragestellungen und hat wichtige Anwendungen in der Technik,
zum Beispiel in der Robotik.
In der Erwartung der Zukunft deuten wir die Gegenwart. Es stehen mehrere
Muster zur Verfügung beim Deuten der Zeichen der Zeit: Es wird immer
besser; es bleibt alles gleich; alles zerfällt; Neues wird entstehen. Das
vierte Muster ist zentral für die christliche Hoffnung, wo die Geschichte
von Karfreitag und Ostern das Musterbeispiel geben. Die vier Muster sind
diametral verschieden. Demnach können sich die Deutungen der selben
Gegenwart widersprechen. Erst spätere Erfahrungen bestätigen oder
widerlegen eine bestimmte Deutung.
Das Deuten der Gegenwart ist nicht belanglos, denn die auf uns zukommende
Zukunft verlangt nach Vorbereitung, Initiative oder Abwehr. Menschen sind
Meister im Deuten, vielleicht weil gutes Mustererkennen ein Vorteil in der
Selektion und Evolution der Hominiden war. Wer gut deutet, hatte mehr Chancen
zu überleben und Nachkommen zu haben. Wer falsch deutet, den bestraft die
Zukunft.
Die Spannung zwischen Naturwissenschaft und Religion bezüglich der
Zukunftserwartung kann nicht völlig harmonisiert werden und muß bleiben. Es ist die Spannung zwischen praktischem
Wissen und visionärer Hoffnung. Diese Spannung ist in uns selbst, nicht
zwischen Fachgebieten. Sie ist ein wichtiger Teil der Wirklichkeit und unseres
Lebens.
Die beiden Ebenen kommen dann in konstruktive Berührung, wenn die
eine der anderen zum Bild wird. Praktisch geschieht dies, indem eine religiöse
Erfahrung oder die Hoffnung durch eine Metapher aus der naturwissenschaftlichen
Ebene erläutert wird. Die Metapher (gr. =
Übertragung) überträgt ein bekanntes Muster (zum Beispiel
"Neues entsteht") in einen anderen Bedeutungsbereich. Den Begriff
"Hoffnung" könnte man durch folgende Metapher vermitteln:
So wie unser Planet aus kosmischem Staub
entstanden ist, der Asche zerfallener früherer Sterne, so wird aus dieser
Existenz etwas Neues entstehen.
Die Hoffnung, welche hier ausgedrückt wird, ist nicht aus der
Entstehungsgeschichte von Planeten herzuleiten, sondern muß
der religiösen Wahrnehmungsebene entstammen, in der dieses grenzenlose
Vertrauen erfahren wird.
Hoffnung auf Neues ist eines von mehreren Deutungsmuster der Zeichen der
Zeit. Leben wir mit diesem Muster, wird die vergangene Entwicklung des
Universums zum Bild für die Zukunft. Noch mehr: Im Deuten
wissenschaftlicher Resultate bewerten wir das naturwissenschaftlich
Vorfindliche und interpretieren es aufgrund anderer, zusätzlicher Erfahrungen.
Die naturwissenschaftlichen Fakten erscheinen in einem neuen Licht und unter
einer bestimmten Perspektive: Das Universum wird zur fortlaufenden
Schöpfung auch in der Zukunft.